Das kleine Haus am Sonnenhang by Capus Alex

Autor:Capus, Alex [Capus, Alex]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Geist
Herausgeber: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
veröffentlicht: 2024-02-15T00:00:00+00:00

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Ich habe einmal einen Roman geschrieben, in dem die Archäologie in Griechenland eine gewisse Rolle spielte. Für die Recherchen fuhr ich auf den Spuren Heinrich Schliemanns und Arthur Evans’ nach Athen und nach Kreta. Nadja und die Kinder kamen mit, wir verbanden die Reise mit Urlaub. Nach der Landung in Heraklion besuchten wir den Palast von Knossos, wo zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts mein Romanheld Evans auf tatsächlichen Ruinen, die er im Boden fand, seine Vorstellung einer vorantiken Hochkultur aufbaute. Wir wanderten durch den imposanten Nordeingang zu den üppig dekorierten Sälen und Korridoren, die Evans vor gut hundert Jahren in Stahl und Beton hatte errichten lassen. An manchen Stellen traten korrodierte Armierungseisen unter abgeplatztem Beton hervor. Wir besichtigten den »rekonstruierten« Thronsaal, das angebliche Badezimmer der Königin und die berühmten Fresken mit den Tänzerinnen, die einen geradezu pariserischen Chic ausstrahlten.

»Ist es nicht erstaunlich«, sagte neben mir ein älterer Herr mit Wiener Akzent. »Alles dreitausend Jahre alt, und sieht doch aus wie Jugendstil.«

»Nein, das sieht nicht aus wie Jugendstil«, hätte ich geantwortet, wenn ich schlagfertig genug gewesen wäre. »Das ist Jugendstil!«

Denn Arthur Evans war ein Kind des Jugendstils. Er war Ende des neunzehnten Jahrhunderts nach Kreta gereist mit seinem lang gehegten Lebenstraum, auf europäischem Boden eine alte Hochkultur zu finden, die der pharaonischen auf Augenhöhe hätte begegnen können.

Er war ein Europäer seiner Epoche. Europa litt seit der Wiederentdeckung Ägyptens durch Napoleon Bonaparte an der narzisstischen Kränkung, dass zu einer Zeit, als Germanen und Kelten noch in Lehmhütten hausten, auf afrikanischem Boden kulturell schon ziemlich viel los gewesen war. Deshalb hegte das Bildungsbürgertum in London, Paris und Berlin den dringenden Wunsch, dass auch in Europa schon vor dreitausend Jahren eine Hochkultur geblüht haben möge, die es mit der ägyptischen hätte aufnehmen können. Um diesen Wunsch wahr werden zu lassen, ließ Evans in Knossos einen Jugendstil-Palast errichten, dessen Vorbild er nicht im Boden Kretas, sondern auf dem Grund seiner Seele vorgefunden hatte.

Was heute in Knossos steht, ist ein Disneyland für Latein- und Griechischlehrer, aber ganz sicher kein Ort der Wissenschaft. Die Geschichte, die Arthur Evans erzählt, hat wenig oder nichts mit einer wie auch immer gearteten historischen Realität zu tun. Man kann fast nichts über die minoische Kultur wissen, weil sie keine schriftlichen Quellen und auch sonst allzu wenige Fußstapfen hinterlassen hat. Sogar ihren Namen musste Evans bei Homer borgen. Trotzdem strömen seit über hundert Jahren Millionen Touristen nach Knossos, um sich den Wachtraum einer Hochkultur anzuschauen, die es so mit Sicherheit nie gegeben hat.

Nach dem Besuch von Knossos wäre ich gern an irgendeinen Strand gefahren, um dort abzuhängen und mich drei Wochen nicht mehr fortzubewegen. Ich bin ja eigentlich der Meinung, dass man als Mensch nicht mehrere Strände braucht. Ein Strand reicht völlig. Ich suche mir am liebsten einen aus, und da gehe ich dann hin. Meine Kinder sehen das auch so. Aber Nadja nicht. Sie regt sich auf über unsere Genügsamkeit. Wann immer wir zum Familienurlaub aufbrechen, breitet sie die Karte vor uns aus, streift mit weit ausladender Gebärde darüber und sagt: »Schaut her, in diesem Land gibt es hundert Strände.

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